Probleme beim RichtungshörenInterview mit Katharina Schmidt (M.Sc.), Institut für Hörtechnik und Audiologie (IHA) der Jade Hochschule.

Frau Schmidt, Sie haben an Ihrem Institut ein Diagnostik-System entwickelt, um das Richtungshören bei Kindern zu untersuchen. Was versteht man unter „Richtungshören“?
Als Richtungshören wird  die Fähigkeit bezeichnet, festzustellen woher ein bestimmtes Schallereignis kommt. Haben Sie sich schon einmal gefragt, woher wir überhaupt wissen, aus welcher Richtung morgens der Wecker klingelt? Oder wie wir hören können, aus welcher Richtung eine Person spricht? Wenn wir mit dem Fahrrad zur Arbeit oder in die Schule fahren, ist es eigentlich für uns auch kein Problem, zu lokalisieren aus welchen Richtungen die Autos kommen. Diese Entscheidung „hören, woher ein Geräusch kommt und dies zu lokalisieren“ erfolgt unbewusst und bei Normalhörenden auch ohne große Anstrengungen.

Die akustische Lokalisation, also das Richtungshören, gehört somit zu den grundlegenden und automatisierten zentral-auditiven Prozessen (Weiterleitung und Verarbeitung von gehörten Informationen in Hörnerv und Gehirn) des binauralen (beidohrigen) Hörens. Dabei nutzt das Hörsystem die Unterschiede der in beiden Ohren eintreffenden Signale einer entfernten Schallquelle, um deren Richtung zu bestimmen. Beide Ohrsignale unterscheiden sich dabei interaural, d.h. zwischen beiden Ohren, im Pegel, in der Laufzeit und in der Phase. Dabei nutzen wir bei tiefen Frequenzen (< 1,6 kHz) interaurale Laufzeitunterschiede (ITD) für die Lokalisation, während die Rolle der interauralen Pegelunterschiede (ILD) zu hohen Frequenzen (> 1,6 kHz) hin zunimmt, um die Richtung zu bestimmen.

Warum ist dieser Aspekt des Hörens für Kinder so wichtig?
Das Richtungshören ist ein wichtiger Aspekt im Alltag und spielt eine entscheidende Rolle, dass wir uns in unserer Umwelt besser zu Recht finden. Beim Richtungshören werden die unterschiedlichen Schallereignisse vom Gehirn verarbeitet, die es von beiden Ohren erhält. So können wir die Richtungen erkennen und die Schallquellen zuordnen. Wenn wir ein Gespräch in einer geräuschvollen Umgebung führen, ist Richtungshören von großer Bedeutung. Des Weiteren erhöht es die Sicherheit im Alltag, weil mögliche Gefahrenquellen wie z.B. im Straßenverkehr besser geortet werden können.

Derzeit ergibt sich die immer noch aktuelle und nicht beantwortete Frage, wie das Hörsystem reift. Somit ist auch die Fähigkeit des Richtungshörens von Kindern nicht ausreichend erforscht worden. Es ist z.B. noch nicht eindeutig bekannt, ob das binaurale (Stereo-)Hören altersabhängig ist. Sprich, ob wir das Hören lernen, so wie wir auch die Sprache erlernen. Erste Forschungsergebnisse zeigen die Tendenz, dass jüngere Kinder zwar Richtungshören können, deren Lokalisationsleistungen jedoch höhere Abweichungen zeigen im Vergleich zu Jugendlichen und Erwachsenen. Ebenso ist noch nicht ausreichend geklärt, ob es eine sensitive Phase oder besondere Faktoren gibt, die die Entwicklung des Richtungshörens bei Kindern beeinflussen. Diese Aspekte sollen in den nächsten Jahren untersucht und analysiert werden.

Worauf sollten Eltern achten, um eine mögliche Störung beim Richtungshören ihres Kindes zu entdecken?
Es ist wichtig, dass Eltern oder andere Bezugspersonen im Umfeld des Kindes, umfangreich mit dem Kind im Alltag kommunizieren. Die Reaktion bzw. die Nicht-Reaktion des Kindes sollte bei verschiedenen Situationen beobachtet werden. Auffällig ist z.B., wenn
– das Kind bei einer Ansprache von der Seite oder von hinten nicht reagiert,
– leise Geräusche oder Signale nicht wahrnimmt, oder
– z.B. auch Schwierigkeiten hat, die Richtung eines Autos oder einer Fahrradklingel zu orten.

Auch treten bei Kindergartenkindern sehr häufig Mittelohrprobleme auf, die möglicherweise Störungen des binauralen Hörens und somit auch des Richtungshörens beeinflussen könnten. Fallen Störungen des Hörsystems auf, so sollten diese entsprechend kontrolliert und abgeklärt werden. Bei Kindern sind Einrichtungen, die sich auf die Pädaudiologie (Behandlung von Hörstörungen und Störung der Schallwahrnehmung im Kindesalter) spezialisiert haben, zu empfehlen. Entsprechende weiterführende Informationen können zudem aus den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde „Seromucotympanon“ und der Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie  (DGPP) „kindliche Hörstörungen“ entnommen werden.

Was macht das von Ihnen entwickelte System so einzigartig?
Das System ist in mehreren Aspekten einzigartig. Der wohl wichtigste Vorteil des Systems ist, dass mit ihm die Lokalisationsfähigkeit im Freifeld ermittelt werden kann. Das heißt, das Signal wird über Lautsprecher und nicht über Kopfhörer wiedergegeben. Dabei wird zusätzlich darauf geachtet, dass der Kopf des Patienten stets nach vorne (0°) ausgerichtet ist, wenn der Stimulus präsentiert wird. Dies ist wichtig, damit auch wirklich die binauralen Hörleistungen erfasst werden.  Die spezielle Ansteuerung der Lautsprecher ermöglicht eine Überprüfung der Lokalisationsfähigkeit mit einer Winkelauflösung von 5° im Bereich von -90° bis +90°. Des Weiteren ist das Messverfahren sehr kindgerecht und spielerisch gestaltet,  so dass auch schon Kleinkinder selbständig die Messung durchführen und ihre jeweiligen Antworten eingeben können. Die Auswahl der vier verschiedenen Stimuli lässt auch eine Untersuchung bei Patienten, die nicht Deutsch als Muttersprache haben, zu. Ein Vorteil für die Anwender ist, dass das entwickelte System ein Zusatzmodul (genannt ERKI: Erfassung des Richtungshörens bei Kindern) für eine bestehende Audiometrie-Anlage, dem Mainzer Kindertisch, ist. Sind die bautechnischen Voraussetzungen gegeben, muss also nur das ERKI-Modul zum Richtungshören gekauft und aufgebaut werden und nicht eine komplett neue Anlage.

Wie läuft die Untersuchung ab?
Bei dem verwendeten Messaufbau sind fünf Lautsprecher (0°, ±45°, ±90°; r=1m) im Halbkreis um den Probanden aufgebaut (entsprechend des „Mainzer Kindertisches“). Dabei werden die Lautsprecher durch einen gespannten, undurchsichtigen Akustikstoff verdeckt.

Modul "ERKI" und Audiometrie-Anlage (Mainzer Kindertisch)

Die Messungen erfolgen mit vier verschiedenen Stimuli, welche jeweils eine Länge von 300 Millisekunden und einen Pegel von 65 Dezibel aufweisen. Die Schalldarbietung erfolgt aus 37 unterschiedlichen Richtungen mit randomisierter (zufälliger) Reihenfolge in 5° Schritten. Wird ein Stimulus wiedergegeben, muss der Patient zu diesem Zeitpunkt den Kopf zur Mitte, d.h. vorne bei 0°, ausgerichtet haben. Im Anschluss besteht die Aufgabe des Patienten darin, mit Hilfe eines Drehreglers die wahrgenommene Position der Schallquelle anzugeben. Eine unter der Sichtblende montierte LED-Lichterleiste ermöglicht ein visuelles Feedback.

Was unterscheidet Ihr Verfahren vom normalen Hörtest?
Es gibt verschiedene subjektive und objektive Messmethoden, um das Hörvermögen der Patienten zu überprüfen. Dazu zählen unter anderem
– die Ton- und Sprachaudiometrie,
– die Lautheitsskalierung,
– die Tympanometrie (Messung der Mittelohrfunktion) oder
– die Hirnstammaudiometrie (brainstem evoked response audiometry, BERA).

Möchte man das Richtungshören (sprich die Lokalisationsleistung) überprüfen, steht man jedoch einem Problem gegenüber. Denn auf dem internationalen Markt gibt es derzeit keine einzige einheitliche und standardisierte Messmethodik zur Erfassung der bilateralen (beidseitigen) Lokalisationsleistung, die in der Diagnostik und Rehabilitation eingesetzt werden könnte.

Ab welchem Alter können Kinder an dieser Untersuchung teilnehmen?
Da die Messmethode sehr kindgerecht und spielerisch gestaltet wurde, können schon Kleinkinder im Alter von 4-5 Jahren an den Untersuchungen teilnehmen. Dafür spricht auch die kurze Messdauer von 3-4 Minuten.

Wo werden Untersuchungen mit Ihrem Diagnostik-System bislang durchgeführt?
Bislang werden die Untersuchungen mit dem Diagnostik-System vor allem an der Jade Hochschule (Standort Oldenburg) durchgeführt. Aktuell haben wir aber auch eine multizentrische Studie, zusammen mit sechs deutschen Universitätskliniken, begonnen. Dafür wurde das ERKI-System in den Universitätskliniken Mainz, Münster, Köln, Düsseldorf, Lübeck und Oldenburg (ev. Krankenhaus) installiert. In den nächsten Jahren sollen zu verschiedenen Fragestellungen entsprechend Daten erhoben werden.

Können Eltern sich direkt an diese Einrichtungen wenden, um ihr Kind dort untersuchen zu lassen?
Das ERKI-Setup zu Überprüfung der Lokalisationsleistung ist derzeit noch in der Produktentwicklung und aus diesem Grund nur in den oben genannten Einrichtungen der Universitätskliniken aus der multizentrischen Studie, sowie der Jade Hochschule (Standort Oldenburg) vorhanden. Termine und die Bedingungen der Studienteilnahme müssten mit den einzelnen Einrichtungen abgesprochen werden.

Wenn eine Störung des Richtungshörens diagnostiziert wird, was sind dann die nächsten Schritte?
Die Behandlung von Störungen des Richtungshörens erfolgt mit einer Kombination unterschiedlicher Behandlungsansätze. Deshalb sollte auf jeden Fall  eine gute Zusammenarbeit zwischen den behandelnden Ärzten, Therapeuten (z.B. Logopäden), Fachgeschäften (z.B. Hörgeräteakustiker) und den Eltern angestrebt werden. Dazu gehört auch, dass die Erzieher in der Kinderbetreuung und die Lehrer in der Schule informiert und in die Behandlung eingebunden werden. So kann z.B. darauf geachtet werden, dass das Kind im Unterricht nicht hinten in der letzten Reihe, sondern weiter vorne beim Lehrer platziert wird.

 

Weblinks

Jade Hochschule (Oldenburg)

Universitätsklinik Mainz

Universitätsklinik Münster

Universitätsklinik Köln

Universitätsklinik Düsseldorf

Universitätsklinik Lübeck

Universitätsklinik Oldenburg (ev. Krankenhaus)

Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie